Mathematische Marginalien
Klassisches und Kurioses aus der Mathematik

Der Wallspaziergang

Auf den Seiten wurde schon häufiger die besondere Rolle des Mathematischen Instituts in Göttingen herausgestellt – und dies nicht nur, weil der Autor dort studiert hat. Das Institut zeichnet sich nämlich einerseits durch seine ruhmreiche Geschichte aus, andererseits durch seine besondere Lage, direkt gegenüber vom Göttinger Stadtwall. Diese alte Befestigungsanlage ist keine richtige Stadtmauer  mehr, sondern eine Art Damm, mit Gehölz und Bäumen bewachsen, und mit einem Wanderweg, der einmal rund um die Altstadt führt. In dem YouTube Video bekommt man einen Eindruck, wie es dort aussieht. Wenn man Nepalesisch spricht, kann man sogar den Kommentar verstehen.

Wenn man also mit einem mathematischen Problem nicht weiter kommt, empfiehlt es sich, das Institut zu verlassen, kurz die Bürgerstraße zu überqueren, zum Wall aufzusteigen und auf diesem die Altstadt von Göttingen zu umrunden, was eine knappe Stunde dauert. Wenn man auf so einem Spaziergang noch einen Kollegen mitnehmen kann, der sich geduldig das Problem anhört und ab und zu eine kluge Frage stellt, ist das natürlich ideal.

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war diese Form, Mathematik zu betreiben, geradezu ein Markenzeichen des Göttinger Instituts. Emmy Noether und David Hilbert lehrten auf diese Weise, wobei die Spaziergänge nicht nur über den Wall, sondern auch in die weitere Umgebung Göttingens führten – die Probleme, mit denen sich Noether und Hilbert beschäftigten, waren wohl entsprechend schwierig.

Aber bleiben wir beim Wall und stellen wir uns vor, dass zwei Mathematiker, Emmy und David, den Wall entgegen dem Uhrzeigersinn umrunden, wobei David immer genau einen Meter rechts von Emmy läuft. Das entspricht zwar nicht der Etikette, aber auf die legen die meisten Mathematiker eh' keinen Wert. Nach rund einer Stunde kommen die beiden wieder am Abgang gegenüber vom Mathematischen Institut an und sie überlegen sich, wieviel Meter David wohl mehr zurückgelegt hat als Emmy. Nun, für so einen Wallspaziergang ist das ein relativ einfaches Problem. Der Wall bildet nahezu einen Kreis um die Altstadt, sein Radius sei $r.$ Emmy hat demnach die Strecke $2\pi r$ zurückgelegt und David $2 \pi (r+1) = 2\pi r + 2\pi,$ David ist also $2\pi$ Meter mehr gelaufen, ganz unabhängig davon, wie groß der Radius $r$ nun ist.

Emmy und David wären keine Mathematiker, würden sie nicht versuchen die Fragestellung zu verallgemeinern. Was wäre, wenn Emmy einfach $n$ km geradeaus ginge, auf dem Absatz links herum kehrt machte und dann den gleichen Weg zurück, David immer genau einem Meter rechts neben sich? Am Ziel- bzw. Startpunkt müsste Emmy sich noch einmal links herum drehen, damit es sich wirklich um einen Rundkurs handelt. Auch das ist nicht schwierig: Auf der gesamten geraden Strecke legen die beiden genau die gleiche Entfernung zurück. Am Wendepunkt dreht sich Emmy um die eigene Achse und der arme David muss in einem Meter Entfernung um diesen Drehpunkt herumlaufen, damit er immer einen Meter rechts von Emmy bleibt. Das gleiche passiert bei der Drehung am Schluss. David läuft nur die beiden Halbkreise von je einem Meter Radius zusätzlich, was wieder eine zusätzliche Strecke von $2 \pi$ ergibt, unabhängig von der Länge der Geraden $n.$

Jetzt keimt bei jedem Mathematiker ein Verdacht auf: Sollte das etwa immer so sein, bei jedem beliebig geformten Rundkurs? Man überlegt sich schnell noch einige weitere Beispiele: Emmy läuft ein Rechteck entgegen dem Uhrzeigersinn, wobei sie sich an den Ecken wieder auf dem Absatz dreht. David muss hier an den Ecken jeweils einen Viertelkreis mit Radius Eins laufen, und das vier mal, daher läuft er wieder $2 \pi$ Meter mehr. Man kann sogar einen sehr kompliziert geformten Rundkurs aus kleinen Geradenstücken zusammensetzen, die sich allerdings nicht schneiden dürfen. Die Rechnung wird vielleicht etwas unübersichlich, aber man kann sich leicht klar machen, dass David immer $2 \pi$ Meter mehr läuft, wenn er stets rechts von Emmy bleibt und Emmy die Strecke entgegen dem Uhrzeigersinn läuft.

Das gilt natürlich nur bei einem einfachen Rundkurs. Wenn die beiden mehrfach um den Wall laufen oder das Rechteck mehrfach umrunden, läuft David für jede Runde $2 \pi$ Meter mehr. Wenn sie eine Acht laufen, geht David in der ersten Schleife außen, in der zweiten Schleife innen, so dass beide die gleiche Strecke zurücklegen. Allgemein stellt sich heraus, dass der Netto-Drehwinkel der Läufer die entscheidende Rolle spielt. Auf dem einfachen Rundkurs schauen die beiden am Start und am Ziel in die gleiche Richtung, haben sich auf dem Weg also um 360° gegen den Uhrzeigersinn gedreht, das entspricht im Bogenmaß $2 \pi.$ Bei der Acht drehen sich die beiden zunächst um 360° gegen den Uhrzeigersinn, dann um 360° zurück im Uhrzeigersinn. Der Netto-Drehwinkel ist hier 0.

In seinem Buch [Nahin 2006] zeigt Paul Nahin dies generell, für (fast) beliebig geformte ebene Wege. Der eine Läufer legt immer so viele Meter mehr (oder weniger) zurück, wie der Netto-Drehwinkel der Läufer im Bogenmaß angibt. Die Einschränkung fast bezieht sich auf Strecken, bei denen sich der eine Läufer so scharf in Richtung des zweiten Läufers dreht, dass dieser rückwärts laufen müsste, um in einem Meter Abstand zur Rechten zu bleiben. Das Problem geht ursprünglich auf eine Veröffentlichung von R. Bruce Crofoot [Crofoot 2002] zurück und diese Seite dient eigentlich nur dazu, auf dessen lesenswerten Artikel, der im Mathematics Magazine erschienen ist, hinzuweisen.

In seiner einfachsten Form ist das Problem übrigens verwandt mit einer Denksportaufgabe, die jeden verblüfft, der zum ersten Mal davon hört: Man google nach den Stichworten Seil und Äquator.