Mathematische Marginalien
Klassisches und Kurioses aus der Mathematik

Arnolds Fliege

Die folgende Aufgabe ist die Nummer 17 aus der Sammlung Denkaufgaben für Kinder von 5 bis 15 Jahren  ([Arnold 2004]) von Wladimir Igorewitsch Arnold. Dort sind allerdings konkrete Zahlen vorgegeben (siehe unten):

Zwei Radfahrer fahren in entgegengesetzter Richtung eine Strecke der Länge $d.$ Der eine fährt von $A$ mit der konstanten Gecshwindigkeit $v_a$ nach $B,$ der andere von $B$ mit der konstanten Geschwindigkeit $v_b$ nach $A.$ Die beiden Radfahrer starten exakt zum gleichen Zeitpunkt. Ebenfalls zu diesem Zeitpunkt startet mit dem ersten Radfahrer eine Fliege und fliegt mit der konstanten Geschwindigkeit $v_f$ ebenfalls Richtung $B.$ Sobald sie auf den zweiten Radfahrer trifft, d.h. seine Stirn berührt, dreht sie (ohne Verzögerung) um und fliegt wieder in Richtung $A.$ Sobald sie die Stirn des ersten Radfahrers trifft dreht sie wieder um und fliegt Richtung $B.$ So fliegt sie immer hin und her, bis sie zum Schluss zwischend den Stirnen der kollidierenden Radfahrer zerquetscht wird. Welche Strecke hat die Fliege insgesamt zurückgelegt?

Herr Arnold bevorzugt offensichtlich ein blutrünstiges Ende seiner Geschichte. Zartere Gemüter können die Radfahrer durch ferngesteuerte Modellautos ersetzen und die Fliege durch eine ebenfalls ferngesteuerte Drohne, die genau dann ohne Verzögerung umkehrt, wenn die Vorderkante des entsprechenden Autos senkrecht unter ihr ist. Dann bleibt es beim Sachschaden.

Einfache Lösung

Die beiden Radfahrer stoßen nach der Zeit $t$ zusammen. Bis dahin hat der eine die Strecke $s_a = v_a t$ zurückgelegt, der andere $s_b = v_b t$ Zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes gilt: \[s_a + s_b = d\] also errechnet man für $t$: $$ \begin{align*} v_a t + v_b t = d\\ (v_a+v_b)t = d\\ t = \frac{d}{v_a+v_b}\\ \end{align*} $$ Die Fliege stoppt ebenfalls zum Zeitpunkt $t$ notgedrungen ihren Flug. Sie hat bis dahin \[s_f = v_f t = v_f\frac{d}{v_a+v_b}\] zurückgelegt.

Mit den Zahlenwerten, die Arnold für seine Aufgabe angegeben hat ($d = 40\textrm{km},\quad v_a=10\textrm{km/h},\quad v_b=15\textrm{km/h},\quad v_f=100\textrm{km/h}$) ergibt sich: \[s_f = 100\frac{40}{10+15} = 160\textrm{km};\quad t = 1.6\textrm{h}\]

Reihenentwicklung

Getreu der Devise Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?  sollte man den Weg der Fliege durch Summenbildung über alle Wegstrecken errechnen können, die sie zwischen den Stirnen der Radfahrer zurückgelegt hat. Es ergibt sich offenbar eine unendliche Reihe, und da man mit der einfachen Lösung den Wert dieser Reihe schon gefunden hat, evtl. eine interessante Summenformel.

Zunächst kann man, ganz genau wie oben den Zeitpunkt $t_1$ zu dem die Fliege mit dem Radfahrer, der von $B$ nach $A$ fährt, zusammenstößt, berechnen. Man muss nur statt $v_a$ den Wert $v_f$ einsetzen: \[t_1 = \frac{d}{v_f+v_b}\] Die Fliege hat zu diesem Zeitpunkt $v_f t_1$ zurückgelegt, aber wir führen die gesamte Reihenberechnung für die Zeiten $t_1, t_2,\dots$ durch, die Wege ergeben sich ganz zum Schluss durch Multiplikation mit $v_f.$

Für die zweite Teilstrecke, die die Fliege, nun Richtung $A$ zurücklegt, rechnet man genau so, nur starten die beiden Radfahrer nicht mehr von zwei Punkten aus, die in der Distanz $d$ liegen, sondern sie haben schon die Strecken $v_a t_1$ bzw. $v_b t_1$ hinter sich gebracht, so dass die neue Distanz \[d_1 = d - (v_a + v_b)t_1 \] ist. Mit dieser neuen Distanz errechnet sich die Zeit $t_2,$ zu der die Fliege wieder mit dem ersten Radfahrer kollidiert, gemessen vom Umkehrpunkt der Fliege: \[t_2 = \frac{d_1}{v_f+v_a}\] Es muss jetzt unter dem Bruchstrich $v_a$ statt $v_b$ stehen, weil die Fliege ja dem ersten Radfahrer entgegenfliegt. Die Gesamtflugzeit der Fliege bis zur zweiten Kollision ist also $t_1+t_2,$ aber wir beschäftigen uns momentan nur mit den jeweiligen Flugzeiten in einer Richtung.

Diese Rechnungen wiederholen sich für alle Kollisionszeiten $t_3, t_4,\dots.$ Man erhält, getrennt für ungerade und gerade Indizes ($n=1,2,3,\dots$): \[t_{2n-1} = \frac{d_{2n-2}}{v_f+v_b}\] \[t_{2n} = \frac{d_{2n-1}}{v_f+v_a}\] und für die $d_n$ für alle Indizes $n=1,2,\dots$: \[d_n = d_{n-1} - (v_a+v_b)t_n\] Dabei definieren wir die Startwerte $d_0 = d$ und $t_0 = 0.$

Zur Vereinfachung schreiben wir $v_{ab}$ für $v_a+v_b,$ $v_{fa}$ für $v_f+v_a$ und $v_{fb}$ für $v_f+v_b$ und erhalten: \[t_{2n-1} = \frac{d_{2n-2}}{v_{fb}}\] \[t_{2n} = \frac{d_{2n-1}}{v_{fa}}\] \[d_n = d_{n-1} - v_{ab}t_n\] Hieraus lässt sich für ungerades und gerades $n$ getrennt eine Rekursionsformel für die $d_n$ entwickeln: $$ \begin{align*} d_{2n} &= d_{2n-1}-v_{ab}t_{2n}\\ &= d_{2n-1}-v_{ab}\frac{d_{2n-1}}{v_{fa}}\\ &= d_{2n-1}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})\\ \end{align*} $$ und analog \[d_{2n-1} = d_{2n-2}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})\] Daraus ergibt sich: $$ \begin{align*} d_{0} &= d\\ d_{1} &= d_0(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})= d(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})\\ d_{2} &= d_1(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})= d(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})\\ d_{3} &= d_2(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})= d(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^2(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})\\ d_{4} &= d_3(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})= d(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^2(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^2\\ \end{align*} $$ oder allgemein für $k \geq 1$: $$ \begin{align*} d_{2k-1} &= d(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^k(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^{k-1}\\ d_{2k} &= d(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^k(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^k\\ \end{align*} $$ und entsprechend für die $t_k$ ebenfalls für $k \geq 1$: $$ \begin{align*} t_{2k-1} &= \frac{d_{2k-2}}{v_{fb}} = \frac{d}{v_{fb}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^{k-1}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^{k-1}\\ t_{2k} &= \frac{d_{2k-1}}{v_{fa}} = \frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^k(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^{k-1}\\ \end{align*} $$ Jetzt können wir die Formeln für die geometrische Reihe $\sum_{k=0}^\infty{q^k}=1/(1-q)$ anwenden: $$ \begin{align*} \sum_{k=1}^\infty{t_{2k-1}}&=\sum_{k=1}^\infty{\frac{d}{v_{fb}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^{k-1}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^{k-1}}\\ &= \frac{d}{v_{fb}}\sum_{k=0}^\infty{(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^k(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^k}\\ &= \frac{d}{v_{fb}}\frac{1}{1-(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})}\\ \end{align*} $$ bzw. $$ \begin{align*} \sum_{k=1}^\infty{t_{2k}}&=\sum_{k=1}^\infty{\frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^k(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^{k-1}}\\ &= \frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})\sum_{k=1}^\infty{(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^{k-1}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^{k-1}}\\ &= \frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})\sum_{k=0}^\infty{(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})^{k}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})^{k}}\\ &= \frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})\frac{1}{1-(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})} \end{align*} $$

Die Reihen konvergieren, wenn $v_{fb} > v_{ab}$ und $v_{fa} > v_{ab}$ gilt. Das ist der Fall, wenn die Geschwindigkeit der Fliege $v_f$ sowohl größer ist als die Geschwindigkeit $v_a$ des ersten Radfahrers als auch größer als die Geschwindigkeit $v_b$ des zweiten Radfahrers. Das ist klar, denn ansonsten hechelt die Fliege hinter einem der beiden Radfahrer her, und die Radfahrer stoßen zusammen, ohne dass die Fliege zwischen ihren Stirnen ist. In diesem Fall überlebt die Fliege!

Für die Summe der beiden Summen hat man daher: $$ \begin{align*} \sum_{k=1}^\infty{t_k} &= \frac{d}{v_{fb}}\frac{1}{1-(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})} + \frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})\frac{1}{1-(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})} \\ &= (\frac{d}{v_{fb}}+\frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}}))\frac{1}{1-(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})} \end{align*} $$ Hier bietet es sich an, mit den Originalwerten von Arnold kurz numerisch zu verifizieren, dass man auf dem richtigen Weg ist.

Wir haben $d = 40,\; v_a = 10,\; v_b = 15,\; v_f = 100$

und damit $v_{ab} = v_a + v_b = 25,$ $v_{fa} = v_a + v_f = 110,$ $v_{fb} = v_b + v_f = 115.$

Man rechnet aus: $$ \begin{align*} 1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}} &= 1-25/115 = 0.7826087\\ 1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}} &= 1- 25/110 = 0.77272727 \end{align*} $$ sowie \[ \frac{1}{1-(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})} = \frac{1}{1-0.7826087 \cdot 0.77272727} = 2.53 \] und damit $$ \begin{align*} \sum_{k=1}^\infty{t_k} &= (40/115+40/110\cdot0.7826087)\cdot 2.53 \\ &= (0.34783 + 0.284585)\cdot 2.53 \\ & = 1.600009904 \end{align*} $$ Die Summe stimmt also (bis auf Rundungsfehler) mit dem Wert für $t,$ den wir mit der einfachen Methode erhalten haben, überein.

Das muss sich natürlich direkt durch Vereinfachung des obigen Ausdrucks ableiten lassen. Beginnen wir mit dem ersten Faktor: $$ \begin{align*} (\frac{d}{v_{fb}}+\frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})) &= d(\frac{v_{fa}}{v_{fa}v_{fb}}+(\frac{v_{fb}}{v_{fb}v_{fa}}-\frac{v_{ab}}{v_{fb}v_{fa}}))\\ &= d \cdot \frac{{v_{fa}+v_{fb}}-v_{ab}}{v_{fb}v_{fa}} \end{align*} $$ Für den zweiten Faktor rechnet man zunächst den Nenner aus: $$ \begin{align*} 1-(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}}) &= 1 - \frac{(v_{fb}-v_{ab})(v_{fa}-v_{ab})}{v_{fb}v_{fa}}\\ &= 1- \frac{v_{fb}v_{fa}-v_{ab}v_{fa}-v_{fb}v_{ab}+v_{ab}^2}{v_{fb}v_{fa}}\\ &= \frac{v_{ab}v_{fa}+v_{fb}v_{ab}-v_{ab}^2}{v_{fb}v_{fa}}\\ &= \frac{v_{ab}(v_{fa}+v_{fb}-v_{ab})}{v_{fb}v_{fa}} \end{align*} $$ Man hat also $$ \begin{align*} \sum_{k=1}^\infty{t_k} &= (\frac{d}{v_{fb}}+\frac{d}{v_{fa}}(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}}))\frac{1}{1-(1-\frac{v_{ab}}{v_{fb}})(1-\frac{v_{ab}}{v_{fa}})}\\ &= d\cdot\frac{{v_{fa}+v_{fb}}-v_{ab}}{v_{fb}v_{fa}}\cdot\frac{v_{fb}v_{fa}}{v_{ab}(v_{fa}+v_{fb}-v_{ab})}\\ &= \frac{d}{v_{ab}}\\ &= \frac{d}{v_a+v_b}\\ &= t \end{align*} $$ und damit haben wir das ursprüngliche Ergebnis für $t$ wiedergewonnen.