Gauß auf Java
Ein mathematischer Reisebericht

Über J.G.Hermes

Johann Gustav Hermes wurde am 20.Juni 1846 in Königsberg geboren. Nach Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und seinem Staatsexamen für das Lehramt im Fach Mathematik 1872 promovierte er in Königsberg 1878 zum Dr.phil mit der Arbeit [Hermes 1879]. Ab 1873 war er Lehrer am Progymnasium des königlichen Waisenhauses zu Königsberg, ab 1883 Oberlehrer an der gleichen Anstalt. 1893 wurde er Oberlehrer am Georgianum in Lingen (Ems) und 1896 zum Professor ernannt. Ab 1899 war er Direktor am heutigen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Osnabrück. Im Jahr 1906 ließ sich Hermes aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzen. Er starb 1912 in Bad Oeynhausen. Hermes' Grab befindet sich in Osnabrück. Die Arbeit zur Kreisteilung vom 4.11.1879 bis 15.4.1889 leistete Hermes demnach in seiner Königsberger Zeit.

In seiner Veröffentlichung zur Kreisteilung [Hermes 1894] weist Hermes auf das Diarium  hin, das in der Universität Göttingen hinterlegt sei. Dies ist der sog. Hermeskoffer , der in zahlreichen populärwissenschaftlichen mathematischen Veröffentlichungen erwähnt wird, über dessen Inhalt aber meist nur vage Berichte aus zweiter oder dritter Hand zitiert werden. Der folgenden Beschreibung liegt hingegen mein eigener Augenschein zugrunde.

Äußerlichkeiten

Bei dem Koffer, der etwa 50cm $\times$ 65cm $\times$ 10cm groß ist, handelt es sich um einen Holzkoffer, der mit festem, ockerfarbenem Stoff, vermutlich Köper, überzogenen und mit fünf Messingnägeln am Deckel armiert ist.

In dem Koffer befindet sich ein locker gebundener Papierstapel von über 200 Blättern, jedes etwa 47cm $\times$ 55cm groß, manche jedoch gefaltet, so dass sie nach dem Auseinanderfalten fast doppelt so groß sind.

Hermes hat anscheinend ein schon gebundenes großes Journal mit karierten Blättern, wie man es wohl in Kanzleien oder Buchhaltungen benutzte, für seine Zwecke umfunktioniert und teils auf die Blätter selbst geschrieben, teils die separat angefertigten Bögen sorgfältig aufgeklebt. Die Bindung hat dadurch erheblich gelitten und ist an manchen Stellen notdürftig repariert.

Der Einband des Journals, der offenbar aus violettem Kunstleder[1] besteht, erlaubt es, das ganze Konvolut auf einmal aus dem Koffer zu entnehmen. Macht man dies, wird innen auf dem rückwärtigen Kofferdeckel, eng an die dort befestigte Lederschnalle gedrängt, der Name des Besitzers J. Hermes  sichtbar, in breiten runden Buchstaben mit Tinte auf das blauweiß gestreifte Innenfutter gemalt.

Auf den Einband ist ein Etikett geklebt, das die Gestalt zweier sich senkrecht kreuzender Ellipsen hat, sozusagen die punktsymmetrische Variante des Emblems einer bekannten fernöstlichen Automarke, deren Claim Nichts ist unmöglich  auch gut als Motto für die Arbeit des Herrn Hermes hätte dienen können. Auf dem Etikett steht in kaum verblasster dunkelvioletter Tinte, in gestochener Kurrentschrift:

Diarium zur Kreisteilung J. Hermes Königsberg in Pr. 4.11.1879

Schlägt man die Einbandseite um, erblickt man das Titelblatt mit der Aufschrift:

Konstruction des regulären Fünfundsechzigtausendfünfhundertsiebenunddreißig-Ecks.

Darunter ist ein etwa zehn Zentimeter durchmessender Kreis zu sehen, auf dessem Rande einige nummerierte Punkte eingezeichnet sind. Innen an der Kreislinie entlang ist in winzigen Kapitälchen eine Widmung gezirkelt:

Den Manen Richelot's gewidmet in dankbarer Verehrung. 4.11.1879 – 15.4.1889 – J. Hermes.

Nach rechts aus dem Kreis heraus ist ein Radius fast bis zum Rande des Blattes verlängert, wo der Endpunkt markiert und mit der rätselhaften Bemerkung versehen ist: Radius = der Einheit, die für 1km 168,32 wäre. Ich verspreche[2], dem ersten Einsender einer plausiblen Erklärung dieses Satzes eine Flasche Barolo zukommen zu lassen.

Inhalt

Die einzelnen Seiten, von denen jede einzelne mit Pagina  und der Nummer beschriftet ist, enthalten fast ausschließlich Tabellen, teilweise grafisch und farbig aufbereitet, z. B. auf Pagina 7 eine Matrix mit 32 Zeilen und 64 Spalten. An jedem Schnittpunkt ist fein säuberlich ein kleiner Kreis gezogen, jeder Kreis wie ein winziges Zifferblatt am Rande mit verschiedenfarbigen Ziffern versehen, nicht mit den zwölfen der Uhr, sondern nur mit dreien, vieren oder fünfen, in unterschiedlichen Positionen. Ich habe nicht den Versuch unternommen, den Sinn dieser Darstellung zu ergründen.

Einiges hat mit dem 65537-Eck nur indirekt zu tun, so auf Pagina 8a die Konstruktion des regulären Siebzehnecks, die Hermes vielleicht zur Entspannung eingeschoben hat, und zu der er schreibt

…dieselbe ist mit der geringen Anzahl von 22 Gebilden (10 Geraden und 12 Kreise) ausgeführt, den gegebenen nicht mitgerechnet.

Es finden sich ferner endlose Zahlenkolonnen, Vorzeichentabellen, die teilweise je 256 Zeilen und Spalten umfassen und an Schnittmusterbögen erinnern, karierte Blätter, auf denen nur einzelne Quadrate schraffiert oder farbig markiert sind. Mathematische Prosa, also Theoreme oder Beweise, ist hingegen auf den Seiten im Koffer fast gar nicht zu sehen.

Abb.1: Letzte Seite von Hermes' Veröffentlichung zum 65537-Eck
[Hermes 1894]
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In [Hermes 1894] gibt Hermes das Inhaltsverzeichnis seines Diariums an (siehe Abb.1). Im eigentlichen Diarium wird diese Gliederung ebenfalls angegeben, aber man erkennt schon an der etwas chaotischen Paginierung, dass es sich nicht um ein vorbildlich strukturiertes Werk handelt. Immerhin geht aus dem Inhaltsverzeichnis hervor, dass Hermes ähnlich vorgegangen ist wie wir. Insbesondere hat er ebenfalls für fast alle Perioden trigonometrische Berechnungen durchgeführt (Pag. 100-215), die über die Hälfte des Diariums ausmachen. Bei uns wurden diese nur zur Bestimmung der Vorzeichen für die Wurzelausdrücke benutzt (siehe Pagina  97 im Diarium). Es kann aber durchaus sein, dass Hermes damit noch einen anderen Zweck verfolgt hat (siehe den folgenden Abschnitt).

Überprüfung

Lange Zeit war die vorherrschende Meinung unter Mathematikern, dass niemand Hermes' Arbeit wirklich überprüft hat. Aber in den Jahren um 2000 entwickelte die Australische Mathematikerin Joan Taylor (ohne damals die Details der Arbeiten von Gauß und Hermes zu kennen) eine Methode, $\cos{2\pi/n}$ in Form eines einzigen Quadratwurzelausdrucks darzustellen, der nur noch Quadratwurzeln und Brüche ganzer Zahlen enthielt. Die Genauigkeit der ihr damals verfügbaren Computer reichte nicht aus, um das dazu entwickelte Programm auf das 65537-Eck anzuwenden. So begann sie, sich intensiver mit der Theorie zu beschäftigen und auf der Basis der Gaußschen Arbeiten ein weiteres Programm zu schreiben, das ähnlich wie unseres, die Wurzelausdrücke auf jedem Level einzeln mit Hilfe der Gaußschen Perioden zusammensetzte.

Während dieser Arbeit stieß Joan Taylor schließlich auf Hermes' Veröffentlichung von 1894. Sie fand heraus, dass Hermes einen ganz ähnlichen Ansatz gewählt hatte und baute ihr zweites Programm so um, dass es analoge Ausgaben wie die Tabellen auf S.178 bis S.180 in Hermes' Arbeit erzeugen konnte. Dabei fand sie in Hermes' Veröffentlichung lediglich einige wenige Abweichungen, offenbar Druckfehler.

Die Grundlagen beider Methoden fasste Joan Taylor schließich in [Taylor 2003] zusammen und schickte dieses Papier an das Lawrence Berkeley National Laboratory in Kalifornien, wo das ARPREC Paket, eine arbitrary precision  Software, entwickelt wurde. Sie konnte die dort arbeitenden Forscher davon überzeugen, ihr erstes Programm, das sie an das ARPREC Paket angepasst und für die Berechnung des 65537-Ecks erweitert hatte, auf dem ARPREC-Rechner laufen zu lassen. Eine enorm hohe Zahl gültiger Dezimalstellen war nämlich erforderlich, da als Ausgangspunkt der Berechnung hochgenaue Werte des Kosinus-Anteils der Einheitswurzeln dienten.

Das Ergebnis war ein Ausdruck für $\cos{2\pi/65537},$ in dem die Quadratwurzeln nur bis zur Tiefe 15 geschachtelt sind [Taylor 2004]. Die Zähler der Brüche, die dabei unter den Wurzeln stehen, sind teilweise sehr  groß – bis zu 20000 Ziffern. Ein solcher Ausdruck ist natürlich nicht geeignet, daraus tatsächlich eine Konstruktionsvorschrift abzuleiten, allerdings stellt er den momentan kompaktesten Wurzelausdruck für $\cos{2\pi/65537}$ dar, denn er beansprucht nur  12.5MB. Dies ist wesentlich  schlanker, als der Ausdruck, den man nach unserer Methode durch sukzessives Einsetzen der Wurzelausdrücke (siehe Kap.8) erhalten würde.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass wenigstens ein Teil der Rechnungen, die in Hermes' Diarium protokolliert sind, mittlerweile geprüft wurde.

Versuch einer Würdigung

Wie schon gesagt, wird in fast allen Veröffentlichungen zur Kreisteilung die Arbeit von Hermes erwähnt, Hermes selbst wird dabei aber oft als Spinner dargestellt, der zehn Jahre seines Lebens mit einer nutzlosen Beschäftigung vertan hat. So schreibt George E. Martin in [Martin 1998] auf Seite 47:

Connected with the Gauss-Wantzel Theorem, there is one story whose telling cannot be avoided. From the theory, it is evident that a regular 65537-gon can be constructed with the ruler and compass. One person supposedly did so. Oswald [sic] Hermes spent ten years of his life carrying out the necessary constructions; the manuscript was deposited at the University of Göttingen in Germany. Nothing more need be said about Hermes.

Martin ist anscheinend auf der entsprechenden Seite des Mathematics Genealogy Project in die falsche Zeile geraten, denn dort steht ein Oswald Hermes direkt unter dem richtigen Johann Hermes.

Der Ursprung einer weit verbreiteten Legende, die wir hier nach [Stewart 1988] zitieren, liegt ebenfalls im Dunkeln:

Bell tells of an over-zealous research student being sent away to find a construction for the 65537-gon, and reapprearing with one twenty years later. This story, though apocryphal, ist not far from the truth; Professor Hermes of Lingen spent ten years on the problem, and his manuscripts are still (I believe) preserved at Göttingen.

In dem zitierten Buch [Bell 1965] konnte ich eine entsprechende Stelle allerdings nicht finden. Die Zahl 65537 wird dort nur auf den Seiten 65 und 67 in dem Artikel über Fermat erwähnt (wenn die Suchmaschine korrekt gearbeitet hat).

Abb.2: Felix Kleins Erwähnung der Arbeit von Hermes
Quelle: [Klein 1895]
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Im Netz findet man weitere Ausschmückungen dieser Erzählung, so werden sowohl Felix Klein (1849-1925) als auch Edmund Landau (1877-1938) genannt, die die Rolle des genervten Professors übernehmen sollen. Klein hatte wirklich mit Hermes zu tun, er gibt in [Klein 1895] einen sehr wohlwollenden Hinweis auf Hermes Arbeit (siehe Abb.2), ist also mit ziemlicher Sicherheit nicht der Professor aus der Anekdote. Landau wurde erst 1908 Privatdozent, vier Jahre vor Hermes' Tod, und kommt demnach sicher nicht in Frage.

Aus den biografischen Daten kann man entnehmen, dass Hermes offenbar als Externer  in Königsberg promoviert hat, denn er war seit 1873 als Lehrer beschäftigt und hat seine Dissertation 1878 abgeschlossen. Aus dem oben erwähnten Mathematics Genealogy Project  lässt sich leider nicht entnehmen, wer eigentlich Hermes' Doktorvater war. Es lässt jedoch aufhorchen, dass von 1843 bis 1875 Friedrich Julius Richelot den Lehrstuhl in Königsberg innehatte – eben der Richelot, der in [Richelot 1832] das 257-Eck konstruiert hatte. Richelot starb 1875 mit 67 Jahren während er noch im Amt war. Da Hermes' Dissertation sich ebenfalls mit der Kreisteilung befasst, liegt der Verdacht nahe, dass Hermes seine Dissertation bei Richelot begonnen hat, diese aber bei jemand anderem abschließen musste. Für diese Hypothese spricht auch die merkwürdige Widmung auf dem Titelblatt des Hermeskoffers. Nachfolger von Richelot war Heinrich Weber (1842-1913), einer der Lehrer David Hilberts (1862-1943).

In [Scharlau 1989] findet man weitere Informationen über die Mathematik in Königsberg zu Hermes' Zeit. Vorgänger von Richelot war Carl Gustav Jacob Jacobi (1804-1851), unter dem die Universität Königsberg in der Mathematik eine Führungsrolle im gesamten deutschsprachigen Raum erlangte. Die Liste der Nachfolger Jacobis von 1827 bis 1900 ist beeindruckend: Jacobi, Richelot, Weber, Lindemann, Hilbert, Minkowski, Hölder. Ein zweiter Lehrstuhl wurde erst 1899 eingerichtet.

Wenn Hermes in Königsberg promoviert hat, wofür die Datumszeile Königsberg, den 4.Februar 1878 am Ende seiner Dissertation spricht, kommt eigentlich nur Weber als Doktorvater in Betracht. Aus den Veröffentlichungen Webers lässt sich ablesen, dass ihn Fragen der Kreisteilung nicht sonderlich interessiert haben dürften. Ob dies den wahren Kern hinter der erwähnten Geschichte bildet, überlasse ich dem Urteil des Lesers.

Immerhin wurde Hermes' Dissertation schon 1879 in Crelles Journal für die reine und angewandte Mathematik veröffentlicht, wurde von den damaligen Herausgebern demnach nicht als minderwertig betrachtet. Im selben Jahr begann Hermes sein Diarium. In [Hermes 1894], der Arbeit, die gleichsam die sichtbare Eisbergspitze dieses Diariums darstellt, weist Hermes ausdrücklich auf diese Veröffentlichung in Crelles Journal hin, er schreibt dort:

Es schien nun die Frage von Interesse, ob sich bei beliebigem $\mu$ die Endformeln (d.s. die Perioden $\eta^{\nu}$ verschiedener Ordnung) als Formeln in $\mu$ darstellen lassen. Das ist von mir in Crelle's Journal 87 versucht und bis zur Ordnung $\nu \leq \mu+2$ durchgeführt worden. Die höheren Ordnungen boten Schwierigkeiten dar bei allgemeiner Behandlung und es wurde daher der noch übrige specielle Fall: $\mu = 4,$ welcher der Teilung des Kreises in 65537 Teile entspricht, in Angriff genommen.

Hermes bezeichnet hier mit $\mu$ den Exponenten in der Darstellung der Fermatschen Primzahl $2^{2^{\mu}}+1,$ die Perioden sind die uns bekannten Gaußschen Perioden und mit Ordnung  bezeichnet Hermes das, was wir als Stufe  der Periode bezeichnet haben, nur dass er in der Zählung mit $1$ beginnt, wo wir mit $0$ beginnen. Hermes war also für das 65537-Eck in seiner Dissertation nur bis zur Ordnung 6 (von 16) gekommen und betrachtet seine Arbeit am Diarium offenbar als Vollendung seiner Dissertation. Dabei nahm er aber eine Änderung der Methodik vor, um die Schwierigkeiten bei allgemeiner Behandlung  zu überwinden. Er schreibt:

Zur wirklichen Durchführung reichen indessen die Zerlegungen nicht hin, vielmehr mußte auf die ältere Methode von Gauß zurückgegriffen werden, doch konnten dabei in der Rechnung Erleichterungen eintreten, so daß die Aufstellung und Auflösung der quadratischen Gleichungen verhältnismäßig einfach wurde. Zu diesen Vereinfachungen gehört:

a) die Einführung einer linearen Verbindung der Perioden statt des Quadrats einer Periode, […]

b) Die an sich zwar unwesentliche, hier aber […] zu empfehlende Darstellung einer ganzen Zahl als Summe aus Potenzen von 2.

Es spricht demnach eher einiges dafür, dass Hermes aus eigenem Antrieb, weil er mit seiner Dissertation unzufrieden war, die Arbeit am Diarium aufgenommen hat, und nicht aufgrund der Bemerkung eines übellaunigen Professors.

Sowohl bei der Dissertation als auch bei den Arbeiten zum 65537-Eck handelt es sich keineswegs um reine Fleißarbeiten. Wenn wir mit Hilfe des Computers die Koeffizienten der gesuchten Linearkombinationen für die Periodenprodukte durch eine brute force  Suche gefunden haben, so war ein solches Verfahren für Hermes kaum praktikabel. Es musste folglich mehr in die Theorie investiert werden, um bei der Bestimmung der Koeffizienten überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben. Es ist diese Weiterentwicklung der Theorie, die Hermes' erste Arbeit als Dissertation qualifiziert. Dass die Fortführung der Dissertation im Diarium dann doch den üblichen Rahmen gesprengt hat, lässt sich allerdings nicht leugnen.

Wenn Vermutungen darüber angestellt werden, warum jemand zehn Jahre seines Lebens daransetzt, um ein Problem zu lösen. für das sich kaum jemand interessiert, scheint mir folgende Theorie plausibler zu sein als die Anekdote vom aufdringlichen Studenten:

Hermes arbeitete an seinem Diarium von 1879 bis 1889, d.h. von seinem 33ten bis 43ten Lebensjahr, während er am Progymnasium des Waisenhauses zu Königsberg unterrichtete. Der Mathematikunterricht dort dürfte kaum über ein elementares Niveau hinausgegangen sein, Hermes war also sicherlich fachlich unterfordert. Wie aber sollte ein wahrscheinlich nicht eben üppig besoldeter Lehrer im 19ten Jahrhundert seinen nimmermüden Geist beschäftigen? Theater, Konzerte oder Reisen konnte er sich nur selten leisten, Radio, Fernsehen und das Internet gab es noch nicht, was blieb ihm übrig als eine Beschäftigung zu suchen, die zwar anspruchsvoll war, aber nicht zu  anspruchsvoll, so dass man nach einem arbeitsreichen Schultag noch einige Stunden damit zubringen konnte, man denke nur an die vielen Seiten mit den Berechnungen des Periodenwerts aus den trigonometrischen Funktionen.

Die Abhandlungen zum 65537-Eck sind keineswegs die einzigen Publikationen von Johann Gustav Hermes. In [Lemmermeyer 2000] wird Hermes mit seiner Arbeit [Hermes 1889] als Autor des 59. Beweises des Quadratischen Reziprozitätsgesetztes erwähnt[3]. Sucht man im Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik, das von 1868 bis 1932 Vorläufer des Zentralblatts für Mathematik  war, nach J. Hermes, so findet man im Zeitraum von 1882 bis 1906 insgesamt 16 Publikationen u.a. in so angesehenen Zeitschriften wie den Mathematischen Annalen . Etwa ab 1897 behandelt Hermes hauptsächlich Themen aus dem mathematischen Schulunterricht.

Hermes war also sicher kein Spinner. Spinner versuchen mit Schulmathematik die Fermatsche Vermutung zu beweisen. Hermes hingegen besaß alle Voraussetzungen, um die selbst gestellte Aufgabe zu bewältigen. Vermutlich hat er dies sogar geschafft, selbst wenn sich kaum jemand der Mühe unterziehen wird, den Inhalt des Koffers so aufzubereiten, dass die Konstruktion für andere nachvollziehbar wird.

Postscriptum

Der Zufall[4] wollte es, dass am 16. August 2012, zu einem Zeitpunkt, als die PDF-Fassung dieses Blogs fast fertig war, in der Wochenzeitung Die Zeit ein Artikel von Frank Fischer (siehe [Fischer 2012]) über den Hermeskoffer erschien, der sogar Fotos des Koffers und seines Inhalts von Christian Malsch zeigt.

In dem lesenswerten Artikel wird die Geschichte vom unbegabten Studenten noch etwas detaillierter geschildert (es wird Felix Klein als Doktorvater genannt), aber ebenfalls ins Reich der Legende verwiesen. Zum Äußeren des Koffers entnimmt man dem Text und auch einem der Fotos, dass der Kofferdeckel auch außen mit einem übergroßen Schriftzug J. Hermes  versehen ist, eine Tatsache, an die ich mich merkwürdigerweise nicht mehr erinnern kann. Außerdem teilt Frank Fischer seinen Lesern mit, dass der Koffer heute nur noch in Ausnahmefällen gezeigt wird, weil der konservatorische Zustand bedenklich  sei. Das war in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, während ich in Göttingen studiert habe, noch anders. Damals konnte man als Student einfach zur Lesesaalaufsicht im Mathematischen Institut in der Bunsenstraße in Göttingen gehen und nach dem Hermeskoffer fragen. Dieser wurde ohne weitere Rückfragen aus dem Separata-Schrank genommen und mit der Anweisung Wieder hier abgeben! ausgehändigt.

Nach einigen Bemerkungen zum Inhalt, in denen ebenfalls die ästhetischen Aspekte der einzelnen Diagramme und Tabellen besonders herausgestellt werden, schreibt Frank Fischer gegen Ende seines Artikels:

Vollständig nachgerechnet hat Hermes' Kofferkonvolut bisher niemand. Wozu auch? Wenn man wollte, könnte man heute die Konstruktion recht problemlos mit einem Computer programmieren. Doch wer braucht schon ein regelmäßiges 65537-Eck?

Diese zweifellos richtige Aussage kann gut als Schlusswort für dieses Blog dienen. Warum sollte man ein Programm schreiben, das die Konstruktionsanweisung für ein 65537-Eck erzeugt? Schon seit Jahrhunderten ist die Standardantwort auf derartige Fragen: Weil man es kann! Und das soll nun wirklich das Schlusswort sein.